Change? Nein, danke!

 

Ein Gastbeitrag von Karl Rudolf Korte

 

Von Obama lernen, heißt siegen lernen. Auch für Merkel stehen die Chancen gut, als Krisenkanzlerin auch die kommende Wahl zu gewinnen. Mit forcierter Passivität navigiert sie durch die Krisen. Und vielen Wählern genügt das.

 

Unvergleichbar? Überspringen wir mal das Ritual, bei dem vor lauter Unterschiedlichkeits-Beschwörungen zwischen den USA und Deutschland jede Analogie auf der Strecke bleiben muss. Demokratien können verglichen werden. Es drängt sich geradezu auf, Wählerverhalten und Strategie-Entwürfe bei der US-Präsidentschaftswahl auf das vor uns liegende Bundestagswahljahr zu projizieren.

 

Ohne Wechselstimmung setzt sich der Status quo durch. In der Verschuldungskrise profitiert die Exekutive mehr denn je von der Dramaturgie der Krisen-Gipfel. Mit seinem Amtsinhaber-Bonus intonierte Obama: "Ich habe das Schlimmste verhindert!" Wahlen sind nie Erntedankfeste für die Regierungen; in der Wahlkabine bekommt in der Regel die unterstellte Zukunfts-Kompetenz der Kandidaten den Zuschlag. Diesmal aber mischt sich der Grundsound der immerwährenden Finanzkrise hörbar in die Zukunftswünsche der Bürger. Anders ist nicht zu erklären, wie man mit der Parole "No Change" Wahlen gewinnen kann. Es ist ein konservatives Vertrauen auf das Bewährte in turbulenten Zeiten: Es gilt das Kümmerer-Leadership.

 

Denn normalerweise gilt auch in den USA die Regel, dass hohe Arbeitslosigkeit und schlechte Wirtschaftsdaten unweigerlich zum Machtverlust führen. Dies war bei dieser Wahl offensichtlich anders. Trotz der ungünstigen ökonomischen Daten blieb im Hinterkopf der Wähler: "Er hat das Schlimmste verhindert." Der Maßstab orientiert sich mehr denn je an Erfahrung, Kompetenz, Glaubwürdigkeit. In Krisenzeiten bleibt der Politiker erfolgreich, dem Risiko-Kompetenz zugetraut wird.

 

Wahlkampf als Kampf über die Deutungshoheit zur Euro-Krise

Entscheiden ist für Politiker schwierig geworden unter den Bedingungen von hoher Komplexität, Unsicherheit, Zeitdruck und Nichtwissen. Dies gilt es dem Wähler zu kommunizieren. Die globalisierte Finanzkrise ist auch eine Wissenskrise, bei der kein Masterplan zur Verfügung steht. Der souveräne Umgang mit Nichtwissen wird so zur Macht-Ressource von Präsident und Kanzlerin. So ist das Phänomen des "Leadership-Voting" leicht auf Merkel übertragbar. Sie agiert als Kanzlerpräsidentin mit hohen persönlichen Sympathiewerten. Mit forcierter Passivität navigiert sie durch die Krisen, ohne zu suggerieren, dass sie weiß, worin der Ausweg besteht. Den Wählern genügt das, sie üben sich in entspanntem Fatalismus. Auch in Deutschland wird sich - wie dieses Jahr in den USA - der Parteienwettbewerb 2013 mehr um Sicherheit als um Gerechtigkeit drehen. Haushaltsdisziplin steht ganz oben bei den Wählern. Der Wahlkampf wird ein Kampf über die Deutungshoheit zur Euro-Krise.

 

Merkels absehbare Formel lautet: "Ich passe auf unseren Euro auf!" Da klingt Steinbrücks Vorstoß, die Macht der Banken zu brechen, wie die ideale Kandidatur zum Vizepräsidenten. Dass Merkel kürzlich erklärte, dass die Euro-Krise sicher weitere fünf Jahre andauert, passt ins Zeit-Bild 2012. "Four more years" - Ich brauche noch mehr Zeit, um die Probleme abzuarbeiten - das gilt hier wie dort. Ein Jahr Wahlkampf plus vier Jahre Legislaturperiode ergeben die fünf Merkel-Jahre.

Gefühle und Emotionen spielen im US-Wahlkampf eine größere Rolle als in Deutschland. Das galt auch diesmal. Obama vermittelte authentisch: "I feel your pain". Kein großes Narrativ wie "Change" oder "Hope" schmückte die Kampagne. Gefühlig, extrem kleinteilig agierte die Demokratische Partei. Was liegt für Merkel näher, ebenfalls auf dieses Pfund zu setzen? Als Tages-Einzelfall-Entscheidungspolitikerin ohne das Angebot einer verbindenden Erzählung ist ihr Politikmanagement immer schon eher Tasten auf dem Weg. Sie gilt als uninszenierende Kümmerin, der man zutraut zu fühlen, wie es dem Wähler geht. Mag sie sich faktisch in einer politischen Kunstwelt bewegen, bleibt dennoch der Eindruck, dass sie weder abgehoben noch machtversessen Politik betreibt. Sie steht mittlerweile einer bunten, fragmentierten Gesellschaft vor. Nur im Wahlkampf werden die weichgespülten Lager künstlich in Stellung gebracht, um eigene Anhänger zu mobilisieren.

 

Verbindung von Offline- und Online-Welt

Faktisch konnte Obama trotz einer extrem heterogenen Wählerschaft mehr als drei Millionen Wählerstimmen mehr als sein Herausforderer Romney aktivieren. Obama sammelte Minderheiten, um mehrheitsfähig zu werden. Übersetzen könnte man diesen Ansatz in eine Multi-Koalitionsfähigkeit im deutschen Parteienwettbewerb. Wenn Merkel sich mit sechs Parteien im Bundestag konfrontiert sieht, ist ihr zuzutrauen, dass sie beinahe jede Wähler-Koalition schmieden kann. Die Union ist weitgehend normativ entkernt, bleibt aber für die zunehmend nutzen- und nicht bindungsorientierte Wählerschaft attraktiv. Dissens-Management hat Merkel in der aktuellen Berliner Koalition perfektioniert. Als Lernhintergrund würde das einem möglichen Kabinett Merkel III als bunte Koalitionen der Differenz helfen.

 

Problematisch ist jede Übertragung zwischen den USA und Deutschland im Hinblick auf konkrete Wahlkampf-Techniken. Das bürgerliche Misstrauen der deutschen Wähler erstickt bereits im Ansatz jedes Vorhaben, private Details über Einstellungen und Handeln gegenüber Parteien freiwillig zur Verfügung zu stellen. Doch lernen kann man im übertragenen Sinne: Welches konkrete Wähler-Bild haben die Kampagnenplaner? Wer das Lebensgefühl und die Lebenswelt der Wähler authentisch anspricht, gewinnt. Trotz des Großtrends Digitalisierung zeigt der US-Wahlkampf, dass nichts wichtiger für die Wahl- und Entscheidungsbildung ist als das persönliche Gespräch. Insofern bleiben amerikanische Wahlkämpfe neben digitaler Modernität zugleich im Retro-Look. Die Gespräche in der Nachbarschaft wurden forciert, weil über Vertrauenspersonen Wahlentscheidungen transportiert werden. Demjenigen, dem ich vertraue, dem folge ich in seinem Bekenntnis zu einer Partei.

 

Die Verbindung von Offline- und Online-Welt ist dabei der Schlüssel: Wem Wähler wie vertrauen, dies kann man heute technisch über Twitter messen. Ob die Merkel-Union dies besser als andere Parteien nutzen wird, kann man bezweifeln. In jedem Fall wird sie die hohe Popularität ihrer Spitzenkandidatin nutzen. Der Wert von Umfragen steigt in Zeiten knapper Mehrheiten. Wer es schafft, mit Echo-Demoskopie zu mobilisieren, überzeugt auch unpolitische Wähler, die situativ entscheiden, und gewinnt auf der Zielgeraden des Wahlkampfes die entscheidenden Meter.

 

Bei aller Bewegung im Parteienwettbewerb, die bis zur Bundestagswahl noch zunehmen wird, stehen für Merkel die Chancen gut. Das USA-Momentum wirkt in deutschen Spielarten nach. Die Kanzlerpräsidentin Merkel kann von Obama eine ganze Menge lernen.

 

Karl Rudolf Korte, 54, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Er forscht über die Zusammenhänge von Parteistrategien, Medien und Wählerverhalten.