Der Mittelklassen-Effekt

 

Thomas Jahn

 

28.04.2015

 

Die Straßenunruhen in Baltimore zeigen, wie ungleich sich die US-Wirtschaftserholung auswirkt. Die Mittelklasse und die ärmeren Schichten leidentrotz des erwarteten Anstiegs des US-Bruttoinlandsprodukts.

 

New YorkBrennende Autos, geplünderte Geschäfte, verletzte Polizisten und Randalierer: Die Bilanz von den nächtlichen Unruhen in Baltimore ist schlimm. In der Stadt an der amerikanischen Ostküste verhängte der Gouverneur des Bundesstaates Maryland den Ausnahmezustand. Die Nationalgarde marschiert durch die Straßen, derzeit herrscht unwirkliche Ruhe.

 

Anlass für die Gewalt war die Trauerfeier für Freddie Gray. Der Schwarze erlitt nach seiner Verhaftung eine Rückenmarkverletzung und starb eine Woche später am 19. April im Krankenhaus. Der Tod des 25-Jährigen kommt nach einer Reihe ähnlicher Vorfälle im vergangenen Jahr in verschiedenen Regionen der USA wie in Ferguson in Missouri, wo es nach dem Tod von dem jungen Schwarzen Michael Brown zu ähnlichen Ausschreitungen kam.

 

Der unverhältnismäßige Gewalteinsatz der Polizei und die Benachteiligung von Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft sind Kern des Problems. Es waren vor allem weiße Polizisten, die Gray inhaftierten. Aber das erklärt die Unruhen nur teilweise. Anders als in Ferguson steckt der Rassismus in Baltimore weniger tief in den Institutionen. Die Bürgermeisterin ist Afro-Amerikanerin wie auch andere Amtsträger in der Stadt, inklusive dem Polizeichef und 43 Prozent aller Polizisten.

 

Viele der Demonstranten sind Jugendliche, die wenig Perspektive für sich sehen. Die Mittelklasse und die ärmeren Schichten leiden in Amerika, trotz einer in den vergangenen Jahren im Vergleich zu Europa starken Wirtschaftserholung. Ökonomen erwarten 2015 einen Anstieg des US-Bruttoinlandsprodukts von 2,7 Prozent. Die wirtschaftliche Gleichstellung der Schwarzen macht Fortschritte, aber der Aufstieg zieht sich hin. Schwarze leiden wie generell die US-Mittelklasse unter Lohnstagnation.

 

Wie sehr das der Fall ist, zeigt eine neue Studie des US-Kongresses. Nach der liegt das durchschnittliche Einkommen der unteren 90 Prozent Steuerzahler bei 30.980 Dollar – während es 1970 bei  33.621 Dollar gelegen hatte. Ohne Einrechnung von Inflation sank ihr Einkommen um erstaunliche acht Prozent.

 

Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Das Gesetz gilt generell für die Gesellschaft, und verschärft für schwarze Amerikaner. Die US-Arbeitslosigkeit liegt bei 5,7 Prozent, während sie bei Afro-Amerikanern bei 10,3 fast doppelt so hoch liegt. Das gleiche Bild bei der Armutsstatistik, die im Landesdurchschnitt bei 15 Prozent aller Familien liegt, während mehr als jede vierte schwarze Familie dazu gehört.

 

Die ungleiche Einkommensverteilung lässt Fortschritte im Aufstieg der schwarzen Mittelklasse verblassen. Beendete 1960 nur jeder fünfte Afroamerikaner die High School, lag der Wert 1980 bei mehr als 50 Prozent. Von den insgesamt 14,7 Millionen schwarzen Haushalten verdienen laut der US-Volkszählungsbehörde 38,4 Prozent jährlich 35.000 bis 100.000 Dollar, eine Einkommensgruppe, die US-Sozialwissenschaftler als Mittelklasse definieren. Das liegt recht nah am Landesdurchschnitt von knapp 44 Prozent.

 

Allerdings: Die Hälfte aller schwarzen Haushalte gehören mit einem Jahreseinkommen von weniger als 35.000 Dollar zur „working poor“ – oder sind noch schlechter dran. Jede Rezession trifft Schwarze härter, weil sie über wenige Rücklagen verfügen. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Pew besitzen weiße Haushalte mit durchschnittlich 113.000 Dollar 20 Mal so viel Nettovermögen wie schwarze, die es nur auf knapp 5700 Dollar bringen. Der Grund liegt laut dem Institut in der Vermögensstruktur: Bei schwarzen Haushalten konzentriert sich überproportional auf Wohneigentum. Das wurde mit der Immobilien- und Finanzkrise stark entwertet und erklärt den starken Abfall des Nettovermögens, dass noch 2005 mit durchschnittlich 12.100 Dollar mehr als doppelt so hoch lag.