Putin, Propaganda und Patriotismus

 

von Wolfram Weimer

 

31.03.2014

 

Durch Deutschland geht ein Riss: Russland-Ächtern stehen immer mehr Putin-Versteher gegenüber. Dabei werden heikle Gemengelagen des europäischen Selbstverständnisses offenbar. Fünf Erkenntnisse aus der Ukraine-Krise.

 

In der Krim-Krise lockert die politische Debatte langsam auf. Es gibt plötzlich Putin-Versteher und der Propagandawind lässt nach. Dabei werden heikle Gemengelagen des europäischen Selbstverständnisses offenbar. Fünf Beobachtungen zur Krim-Debatte:

 

Erstens: Das Fristenproblem

 

Die Europäer schauen mit unterschiedlichen zeitlichen Horizonten auf den Konflikt. Die Putin-Kritiker haben für Europa das Nationengefäß von 1989 vor Augen – das gilt ihnen als unantastbarer Maßstab. Die Russland-Versteher – von Sozialdemokraten wie Helmut Schmidt bis hin zu Konservativen wie Peter Gauweileröffnen hingegen die große Perspektive. Sie sehen, dass die Krim schon seit den Zeiten von Zarin Katharina „von nun an und für alle Zeiten“ (1783) zutiefst russisch gewesen ist.

 

Das vor allem in Deutschland vorherrschende Bewusstsein, dass Europas Geschichte irgendwie erst ab 1933 begonnen hat, erweist sich in dieser Krise als Scheuklappenblindheit. Europas lange Linien der Konflikte und Identitäten werden unterschätzt und prägen den Kontinent so tief, dass sie immer wieder Macht entfalten. Die Grenzen von 1945/1989 sind offenbar nicht für alle die finalen und alle selig machenden Formationen.

 

In der Ukraine ringt Westeuropa also wie seit Jahrhunderten gegen den Osten, selbst das Jahr 395 (als nach dem Tod von Theodosius I. das römische Reich geteilt wurde) oder 1054 (als sich Europa in eine orthodoxe und eine katholische Welt spaltete) sind plötzlich gegenwärtig. An dieser historischen Demarkationslinie entstehengenau wie auf dem Balkan – stabile Staaten nur schwer. Und so ist auch die Ukraine ein labiles Gebilde.

 

Deutschland wiederum schaut schon aus historischer Verantwortung anders nach Osten als Franzosen oder Spanier. Uns verbinden mit Russland nicht nur Pipelines, Autoexporte und Champions-League-Spiele. Die gemeinsame Geschichte eines millionenfachen Hinschlachtens in Weltkriegen prägt hierzulande die Urteile über russische Perspektiven. Darum gibt es in der älteren Bevölkerung Deutschlands eine größere Nachsicht gegenüber Russland als bei den Jungen.

 

Zweitens: Das Vorherrschaftsproblem

 

Die Putin-Kritiker werfen Russland Interventionismus und Hegemonialismus vor. Die Russland-Versteheretwa Jakob Augsteinverweisen aber darauf, dass der Westen dies selber ganz genauso betreibe. Tatsächlich hat der Westen die Ostgrenze der Nato immer weiter an Russland hingeschoben und militärisch aufgerüstet, obwohl 1989 anderes versprochen worden war.

 

Zugleich weiten wir die EU mit missionarischem Selbstbewusstsein lebhaft nach Osten aus, wir versuchen in Osteuropa unsere Standards von Politik, Kultur und Wirtschaft durchzusetzen, als sei das selbstverständlich.

 

Kurzum: Es gibt ein objektives machtstrategisches Ringen um die Ukraine – eine klassische Auseinandersetzung um Vorherrschaft also. Die Kritik am Hegemonialismus ist insofern nur ein Wiedergänger der alten Schemata vom Kalten Krieg. Darum sind Atlantiker und Amerikafreunde eher auf der Seite der Putin-Kritiker zu finden, während Nato-Verächter die westliche Selbstkritik polieren.

 

Drittens: Das Autonomieproblem

 

Der Krim-Konflikt offenbart eine tiefe Sorge der Europäer um die Integrität ihrer eigenen Staaten. Denn die Aversion einiger Westeuropäer vor demzumindest vertretbarenStandpunkt, dass die Krimbewohner doch selbst entscheiden dürfen sollten, in welchem Staat sie leben, verrät einiges über die labilen Verhältnisse in Westeuropa.

 

Denn natürlich will Katalonien nicht zu Kastilien gehören, das Baskenland will sich nicht Madrid unterwerfen, Korsika will weg von Frankreich, Schottland fort von England und Venetien raus aus Italien, vielleicht sogar Bayern mehr Autonomie in seiner Bundesrepublik. Das heißtEuropa bekämpft mit dem Krim-Tabu seine Selbstentfesselung. Man hat die Sorge, dass der Geist regionaler Autonomien aus der Flasche fliegt.

 

Damit aber wird klar, dass das in Europa bislang so zeremoniell vorgetragene Pathos vomSelbstbestimmungsrecht der Völkereine ambivalente Kategorie ist. In Wahrheit will Europa nur das Selbstbestimmungsrecht der jetzt gerade exakt so existierenden Staaten.

 

Das freilich ist ahistorisch und fraglich in seiner Legitimität, denn die Grenzen Europas verändern sich seit Jahrhunderten permanent, und wer sagt uns eigentlich, ob es nicht klüger oder zumindest beliebter wäre, sie hier und da friedlich neu zu ziehen? Mit welchem Recht verwehrt Europa den Krimrussen das Recht auf ihr Russischsein? Mit dem gleichen, mit dem es Katalanen verwehrt wird, Katalonien zum freien Staat zu erklären?

 

Viertens: Das Identitätsproblem

 

Hinter der Krim-Krise steckt auch die Frage, was Europa wirklich ist. Ist es das christlich vereinte Abendland? Dann wären regionale Grenzverschiebungen eine politische Marginalie. Ist es ein Kaufmannsladen wirtschaftlicher Interessen? Auch dann wäre die Krimkrise nie entstanden, Geschäfte haben immer die Tendenz grenzenlos zu sein. Ist Europa ein demokratisch verfasster Staatenbund von starken Demokratien? Auch dann hätte man über die Krimfrage einen diplomatischen, einvernehmlichen Weg finden können.

 

So aber ist die Maske Europas gefallen. Europa ist nämlich kein einiges Europa, sondern immer noch gefangen im Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Bei aller Globalisierung und EU-Integration sind auch im Jahr 2014 die Nationalstaaten immer noch das alles entscheidende Moment dieses Europa. Nur darum kann ein Krimkonflikt sich heute so anfühlen wie vor 200 Jahren.

Fünftes: Das Realpolitikproblem

 

Die deutsche Außenpolitik hat in langen Jahren des diplomatischen Dünnbrettbohrens offenbar verlernt, zupackende, interessengeleitete Realpolitik zu betreiben. In der Krimkrise wäre es für Deutschland als Führungsmacht Europas eine Pflicht gewesen, mit klaren Machtverhandlungen den Konflikt frühzeitig zu lösen und nicht den USA das Feld zu überlassen.

 

Mit Russland kann man nicht nur verhandeln, man muss es auch. Man hätte die Krim tauschen können gegen milliardenschwere Zusagen zur Sanierung und Stabilisierung der Rest-Ukraine. Man hätte den Russen einen Preis abverlangen könnenGasgarantien für Osteuropa und Deutschland, Abrüstung, Reparationen, irgendetwas.

 

Stattdessen hat man zwischen Naivität und Schusseligkeit hin- und hertaumelnd geglaubt, man könne die Ukraine nach eigenem Belieben westlich sortieren. Und noch immer setzt man darauf, mit Sanktionsdrohungen Russland irgendwie einzuhegen. Das aber funktioniert nicht, und Deutschland könnte sich diese Sanktionen kaum leisten. Mit etwas zu drohen, was lächerlich ist, zeugt von realpolitischem Versagen.

 

Das Fazit

 

Die Krimkrise entlarvt nicht nur die plumpe Großmachtsehnsucht Russlands und seines geltungsbedürftigen Präsidenten. Sie dekuvriert auch die innere Schwäche Europas und die Doppelbödigkeit unseres Kontinents. Putin taugt zu gut zum Sündenbock. Der repressive Oligarchenzar, der Andersdenkende, Schwule und Journalisten behandelt wie lästige Fliegen, der Ex-KGBler und Militarist, der das Recht der Stärkeren über starkes Recht stellt, der proletige Macho – es ist so einfach (und immer wieder auch berechtigt) Putin als Europas Bösewicht wahrzunehmen.

 

Und doch überrascht zuweilen die Pauschalisierung, mit der Medien und Politik über das moderne, eigentlich doch viel differenziertere Russland urteilen. Ausgerechnet zum 100. Jubiläum des Hineinschlitterns in den Ersten Weltkrieg stanzt Europa Masken und Schablonen der wechselseitigen Betrachtung aus nationalen Ressentiments. Das kann nicht gut sein. Wenn sich die Debatte nun also öffnet und versachlicht, darf man erleichtert sein.

 

Wolfram Weimer war Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt, des Politik-Magazins Cicero und des Focus.