Europas Fehler rächen sich

 

Von Viktor Funk

 

Für die Eskalation der Lage auf der Krim ist nicht allein Wladimir Putin verantwortlich. Auch der Westen hat aus seinen Fehlern der Vergangenheit nicht gelernt. Ein Leitartikel zum Krim-Konflikt.

 

 

Es ist verführerisch, im Kreml-Herrscher Wladimir Putin den einzigen Bösewicht in der aktuellen Ukraine-Eskalation zu sehen. Schließlich hat er Tausende russischer Soldaten auf die Krim abkommandiert. Ein Krieg auf dem ukrainischen Territoriumwenn auch lokal begrenztscheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Doch Putins Invasion hat eine lange Vorgeschichte. Sie zeigt, dass weder das Regime in Moskau noch der Westen aus ihren Fehlern der vergangenen Jahre gelernt haben.

 

Der Westen hat Moskau seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehrfach brüskiert: Die Nato-Osterweiterung, die Anerkennung des Kosovo, der Krieg gegen den libyschen Tyrannen Muammar al-Gaddafi sind nur einige der Einschnitte, die gegen den ausdrücklichen Einspruch Moskaus stattfanden. Für jeden dieser Schritte gab es gute Gründe. Aber genau so klug wäre es gewesen, sich zu fragen, ob man wieder und wieder Russlands Mahnungen in den Wind schlagen sollte.

 

Falsche Symbolpolitik

 

Der Krieg zwischen Georgien und Russland lässt sich als Moskaus Antwort auf die Anerkennung des Kosovo deuten. Der damalige russische Präsident, Putins Marionette Dmitri Medwedew, ließ einen westlichen Politiker nach dem anderen abblitzen, als die Kämpfe in Abchasien und Südossetien begonnen hatten. Russlands blinde Unterstützung des syrischen Schlächters Baschar al-Assad ist die Folge des westlichen Eingreifens in den libyschen Bürgerkrieg. Die anhaltenden Probleme im Kosovo und das Nachkriegschaos in Libyen sind heute für Moskau Bestätigungen der eigenen Position.

 

Zu Recht versicherten europäische Politiker in der Hochphase der Maidan-Proteste, dass eine Lösung in der Ukraine nur mit Russland gefunden werden könne. Frank-Walter Steinmeier und seine Amtskollegen aus Frankreich und Polen müssen sich nun fragen lassen, warum sie nicht darauf bestanden, dass auch Russlands Außenminister Sergej Lawrow an den Verhandlungen zwischen der Opposition und dem damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch in Kiew teilnahm.

 

Auch die Empfehlung von Putins Freund Gerhard Schröder war nicht so abwegig, wie sie zu sein schien: Er hatte vorgeschlagen, die Vereinten Nationen als Vermittler in die Ukraine zu holen. Denn: Russland pocht regelmäßig auf das Völkerrecht und besonders auf das Recht eines souveränen Staates. Wenn die einstige Großmacht jetzt dieses Recht verletzt, dann auch vor dem Hintergrund des westlichen Vorgehens während des arabischen Frühlings.

 

Europa hätte sich früher und für Russland eindeutiger in Bezug auf den ehemaligen Bruderstaat Ukraine positionieren müssenohne gleich über EU- und Natomitgliedschaften zu reden. Es ist diese falsche Symbolpolitik, die Moskau erzürnt hat. Auch der von den USA lange angestrebte Raketenabwehrschirm in Polen und Rumänien war aus Moskaus Sicht reine Provokation.

 

EU trägt Verantwortung

Die finanzielle und logistische Unterstützung der friedlichen Rosenrevolution in Georgien 2003 und der Orangen Revolution in der Ukraine 2004 durch US-Stiftungen betrachtete Moskau ebenso als illegitime Einmischung in ihr Interessengebiet. Dass Russlands Führung gut 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion hierbei immer noch von Phantomschmerzen geplagt wird, mag westlichen Strategen lediglich ein Lächeln wert sein. Diese Befindlichkeiten zu ignorieren und weiter so tun, als müsste sich allein Russland an die neue Weltordnung anpassen, ist jedoch höchst gefährlich.

 

Die größere Verantwortung für eine Deeskalation in der Ukraine liegt jetzt bei der EU. Für Montag ist ein außerordentliches Außenministertreffen geplant. Eine Einladung an Sergej Lawrow, als Gast daran teilzunehmen, wäre ein Zeichen von Entgegenkommen und Selbstbewusstsein. Seit mehr als 20 Jahren klagen russische Politiker, dass sie der Weltgeschichte hinterherhecheln und noch immer nach einem Platz darin suchen.

 

Im vergangenen Jahr war es Putin gelungen, im Zusammenhang mit Syrien und der weltweiten NSA-Spionage an diplomatischem Gewicht auf der Weltbühne zu gewinnen. Putins Auftreten in der Ukraine geht auch darauf zurück. Sein einst gekränktes und jetzt wieder erstarkendes Selbstbewusstsein macht ihn unberechenbar – und bietet zugleich eine Chance: So wie der Westen nach einem diplomatischen Glanzstück Russlands im Syrien-Krieg von einer militärischen Intervention abgesehen hat, können die EU und die USA Russland nun in die Pflicht nehmen, sich ebenfalls zurückzuhalten.

 

Der Westen ist am Zug

 

Moskau, Kiew, Brüssel und Washington könnten gemeinsam einen Entwicklungsplan für die Autonome Republik Krim verhandeln. Das wäre sowohl für die Ukraine als auch für die West-Ost-Diplomatie ein Gewinn. Putin hat seinen Schritt gemacht. Nun ist der Westen am Zug.

 

Der ehemaliger KGBler rechnet nach all seinen Erfahrungen jetzt wieder mit Provokationen und Ignoranz. Die westliche Wertegemeinschaft könnte ihn überraschen und auf weitere Drohungen verzichten – und so neues Blutvergießen vermeiden.