Niedergeschmettert und aufgestanden

 

16.04.2013

 

Es gibt keinen vernünftigen Grund, Marathon zu laufen. Und doch sind diese Langläufe Straßenfeste mit internationaler Ausstrahlung. Sie sind Symbole für den Geist von Leistung und Freude und auch von Unvernunft, die noch im Moment des Terrors über diesen triumphiert.

 

Von MICHAEL REINSCH

 

Als eine der Bomben explodiert, krümmt sich ein weißhaariger Läufer in rotem Trikot und stürzt. Das Foto geht um die Welt. Während sich die Helfer den Toten und Verletzten des Anschlags auf den Boston-Marathon widmen, während die Kameras die schreckliche Szene einfangen, helfen Streckenposten dem Mann auf die Beine. Er hat Glück; beim Sturz hat er sich lediglich ein Knie aufgeschlagen. Mit wenigen Schritten überquert er die Ziellinie. Er sei 42 Kilometer gerannt, sagt der 78 Jahre alte Läufer namens Bill Iffrig wenig später, da gebe er doch nicht auf. Er ist geschockt von dem Attentat, das drei Menschen ihr Leben kostete und rund hundertvierzig zum Teil schwer verletzte. Er ist aber auch stolz. In seiner Altersklasse, sagt er, sei er Zweiter geworden.

 

Es gibt keinen vernünftigen Grund, 42,195 Kilometer zu rennen, auch nicht in Boston, beim ältesten Marathon der Welt. Und doch sind diese Langläufe Straßenfeste mit internationaler Ausstrahlung. Sie sind Symbole für eine körperliche Leistungsfähigkeit, die in dieser Welt längst niemand mehr erbringen muss, um überleben zu können. Ein, zwei Handvoll Top-Athleten rennen vorneweg, Zigtausende folgen, Hunderttausende jubeln ihnen zu.

 

Die fürchterlichen Explosionen haben den traditionsreichen Marathon am Patriots‘ Day zu einem Tag des Todes und des Schreckens gemacht. Menschen, die seit Monaten und Jahren für diesen Lauf trainiert hatten, haben ihre Beine verloren. Hätte Bill Iffrig einhalten sollen, hätte er helfen müssen, statt ins Ziel zu wanken?

 

Der Terror, dessen Urheber am Dienstag immer noch unbekannt waren, galt den Menschenmassen dieses Montags in den Straßen von Boston. Er traf ein Symbol für den Geist von Herausforderung, Leistung und Freude daran: den Sport. Auf ihn könnte man, anders als auf den öffentlichen Nahverkehr, der in Madrid und London und - glücklicherweise erfolglos - auch in Deutschland Ziel von Bombenanschlägen war, eigentlich verzichten. Vielleicht sollte man das sogar, wenn man vernünftig ist. Schließlich lässt sich eine Laufstrecke von mehr als 42 Kilometer Länge in keinem freien Land der Welt vollkommen schützen. Doch was bedeutet Vernunft, da die Herausforderung, einen solchen Lauf bewältigen zu können, Teil unseres Lebensstils geworden ist? Bill Iffrig jedenfalls wird darüber nicht nachgedacht haben, als er wie in Trance aufstand und weiterlief.

 

Marathonstrecken werden in Zukunft besser gesichert werden, keine Frage. Doch ob der Terror wirkt, hängt nicht allein von der Polizei ab. Er hängt auch von der Reaktion der Menschen ab. Bill Iffrig symbolisiert die Unvernunft des Sports, die noch im Moment des Terrors über diesen triumphiert.